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Henning Sußebach / Stefan Willeke „Der König der unteren Zehntausend

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Der König der unteren Zehntausend

Harald Ehlert gründete die Berliner Treberhilfe, die sich um Obdachlose kümmert. Seit bekannt ist, dass er sich einen Maserati gönnte, gilt er als Schmarotzer. Doch kann es sein, dass er mehr Gutes bewirkt hat als all die bescheidenen Sozialarbeiter?


Von Henning Sußebach und Stefan Willeke, Zeit, 01.07.2010


Harald Ehlert, den einige seiner Genossen ein »Genie« nennen, andere ein »größenwahnsinniges Arschloch«, will der Welt noch einmal beweisen, dass er ein guter Mensch ist, als diese Sache mit dem Renault passiert. Er will einsteigen, aber der Autositz lässt sich nicht umklappen. Mit seinen kräftigen Händen reißt Ehlert am Sitz, hämmert dagegen, aber nichts tut sich. Bei Sixt haben sie ihm dieses verdammte Mietauto gegeben, das einen seriösen Eindruck machte, einen silbergrauen Familienvan mit drei Sitzreihen, die Ehlert nicht gehorchen wollen. Er dampft vor Zorn.

Es ist ein wolkenloser Tag in Berlin, Ehlert hat sich seine Ray-Ban-Sonnenbrille ins wallende Haar gesteckt, einen Rollkragenpullover über den mächtigen Körper gespannt, ein Leinenjackett darübergezogen. Er steht da wie Marlon Brando im Mafiafilm Der Pate, schaut auf seine goldene Armbanduhr und knurrt: »Meister, was ist das für eine Scheiße mit diesem Sitz?«

Herr Meister ist seit Jahren Ehlerts Chauffeur. Er fuhr auch den schwarzen Maserati, in den sein Chef sich fallen ließ wie ein König in seine Sänfte. Eine hart erprobte Beziehung ist zwischen den beiden entstanden, die keine Abweichungen aushält. Wenn Ehlert spricht, ist Meister still. Wenn Meister fährt, sagt Ehlert, wo es langgeht. Fragt man Meister etwas Harmloses über seinen Boss, wispert er ängstlich: »Ich sage nichts. Ich würde ja auch nichts sagen, wenn ich Frau Merkel fahren würde.«

Das klingt übertrieben, aber es ist etwas Wahres daran. Der 48 Jahre alte Harald Ehlert, Gründer und Chef der Treberhilfe in Berlin, war in der deutschen Hauptstadt so etwas wie ein Herrscher der unteren Zehntausend. Im vergangenen Jahr kamen fast 4000 Menschen in seinen Heimen unter: Frauen, die von ihren Männern aus dem Haus geprügelt worden waren, Herumtreiber, die ein Bett brauchten, Junkies, die sich auf dem Straßenstrich verkauften.

Auf Parkbänken, unter Spreebrücken – dort waren Ehlerts 28 Notunterkünfte und Obdachlosenheime stadtbekannt. Nur die normalen Leute haben keine Notiz davon genommen, bis vor vier Monaten herauskam, dass Ehlert auf Kosten seiner Firma einen Maserati fuhr und sich zuletzt 332.000 Euro Jahresgehalt und eine Sonderzahlung von 90.000 Euro genehmigt hatte. 422.000 Euro insgesamt – fast doppelt so viel wie die Kanzlerin. Der Chef einer gemeinnützigen Gesellschaft, die sich um Obdachlose kümmert, gönnt sich ein Jetset-Leben?

Berlins Sozialsenatorin Carola Bluhm stellte Strafanzeige wegen des Verdachts auf Untreue. Staatsanwälte begannen zu ermitteln. Der Paritätische Wohlfahrtsverband schloss die Treberhilfe aus. Ehlerts Parteifreunde aus der SPD gingen auf Distanz. Die Zeitungen schrieben vom Maserati-Harry . Und weil sich der Verdacht der Prasserei wie ein Schatten über die Branche gelegt hatte, gingen sogar bei der Berliner Tafel weniger Spenden ein.

Ehlert trat als Geschäftsführer der Treberhilfe zurück, setzte einen Treuhänder ein, der Maserati wurde abgeschafft, und die Sache schien klar zu sein: Da hat sich ein übler Schmarotzer jahrelang auf Kosten der Ärmsten bereichert. Endlich ist er erledigt.

So einfach wäre der Fall, wenn der ermittelnde Staatsanwalt in Berlin jetzt nicht sagen würde: »Vielleicht muss er am Ende noch das Bundesverdienstkreuz kriegen.«

Wenn einer der Sozialdemokraten, die sich mit Ehlert überworfen hatten, nicht plötzlich einräumen würde: »Er ist ein vorbildlicher Denker, fix im Kopf. Im Kern hat er recht.«

Viele solcher Stimmen erheben sich mit einem Mal, und die Frage, um die sie kreisen, lautet: Kann es sein, dass ein größenwahnsinniges Arschloch mehr Gutes bewirkt hat als all die sanften Samariter unter den Sozialarbeitern?

Nachdem Harald Ehlert den Autositz endlich bezwungen hat, steigt sein Rechtsanwalt vorn in den Wagen, ein Strafverteidiger, der ihn vor Prozessen schützen soll. Hinter ihm breitet sich Ehlert aus. Er fährt die Fensterscheibe herunter, legt den rechten Arm heraus, greift nach der Thermoskanne im Fußraum und gießt sich einen Becher Kaffee ein. »Das Gute und das Schöne, das ist mein Thema«, sagt Ehlert und lacht. »Ich finde, das Gute soll zum Schönen finden. Warum soll, wer Edles tut, nicht von Schönem umgeben sein?« Wo bleibe da die Logik?

»Meister, fahren Sie los«, sagt er dann.

Und Meister fährt los, aus dem aufgeräumten Berliner Zentrum ins lebendige Schöneberg, wo Ehlert zu jeder Kreuzung eine Geschichte hat. Mal sagt er: »Hier machen wir Spritzentausch.« Mal: »Da ist Kondomausgabe.« Über der Stadt scheint ein unsichtbares Netz zu liegen. Dieses Werk will Ehlert zeigen, all die Arbeit der achtziger Jahre, der neunziger und des neuen Jahrtausends. Überall habe er die Treberhilfe wachsen lassen, einen Verein, den Ehlert ein »Sozialunternehmen« nennt, mit 260 Angestellten, in einer Stadt, in der er »einen riesigen Markt« für das Geschäft mit der Hilfe sieht.

Ehlert will das alles an einem einzigen Tag erzählen, in einer rasenden Fahrt – zu »historischen Stätten«, wie er sagt. Doch um die Hast dieses Mannes zu begreifen, der sein Leben vom Auto aus besichtigen will, muss man erst einmal 30 Jahre zurückblenden. In die Zeit, in der gerade die Biografie der Christiane F. erschien: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.

Es ist der Sommer 1981, als ein junger, langhaariger Mann in Detmold eine Gitarre und ein paar Taschen in seine alte Ente quetscht, um Ostwestfalen zu verlassen. Harald Ehlert hat gerade Abitur gemacht – »irgendwas um Note 3«. Er ist ausgemustert worden, trägt Latzhosen und Wollpullis und malt sich ein Landhippieleben auf dem Bauernhof aus, doch die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen hat ihn nach Berlin vermittelt: Erziehungswissenschaften, Schwerpunkt Sozialpädagogik.

Ehlert, Sohn eines Finanzbeamten und einer Zahnarzthelferin, hat seine Jugend damit verbracht, an Mopeds herumzuschrauben und mit der christlichen Jugend auf Freizeitfahrt zu gehen. Auf dem humanistischen Leopoldinum-Gymnasium seiner Heimatstadt, das heute stolz all die berühmten Absolventen auflistet, darunter den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, bleibt Ehlert damals eher allein. Ein Beamtenkind unter vielen Fabrikantensöhnen und Töchtern aus besseren Kreisen. Wen seiner Mitschüler man heute auch fragt, man bekommt zur Antwort: »Der war nicht in meiner Clique.«

An eines aber erinnern sich alle: dass es Ende der siebziger Jahre dieser Harald ist, der hitzige Diskutant, der an seiner 400 Jahre alten Schule den ersten Leistungskurs für Sozialwissenschaften erkämpft – und ihn dann mit Mathematik kombiniert. Kann es das geben: einen Linken, der Spaß am Rechnen hat?

In Berlin vertieft sich Ehlert ins Sozialrecht, studiert Jugendsoziologie und Kriminalisierungstheorien und tauscht seine Hippieklamotten schnell gegen eine schwarze Lederkluft, weil er sich in Latzhosen doch etwas naiv vorkommt. 1983 schiebt Ehlert als Praktikant Nachtschichten in einer winzigen Obdachlosenunterkunft in Schöneberg, gegründet von einem Pfarrer und einer Prostituierten, betrieben von Gutmenschen, die ihre Sache schlecht machen – findet er: »An die 30 Ehrenamtliche, mal da, mal nicht, total unkoordiniert.«

Die Helfer haben keine Ausbildung und die Obdachlosen keine festen Ansprechpartner. Im Haus mit den sechs Betten herrscht ein Kommen und Gehen. Niemand drängt die Obdachlosen, mal eine Bewerbung zu schreiben. Niemand bringt mal was zu Ende. Niemand weiß, was aus den Heimbewohnern wird. Spricht der junge Sozialarbeiter Ehlert über diese Art von Betreuung, hört man sofort seine Verachtung heraus. »Niemand weiß, wo der Bahnhof ist, aber jeder will darüber reden.«

Ehlert ist damals 21, ehrgeizig und zäh. Er setzt sich an den Kohleofen und spielt Gitarre. Er entert das Heim durch ausdauernde Anwesenheit und redet auf den Sitzungen so lange, bis niemand mehr widerspricht. 1988 übernimmt er den Laden und benennt ihn in Treberhilfe um. Dann geht es Schlag auf Schlag: 1989 ein neues Wohnprojekt im Stadtteil Schöneberg, 1991 eine neue Notunterkunft im Wedding und eine neue Geschäftsstelle, 1992 ein neues Heim in Mitte, 1993 das nächste Haus in Adlershof. Immer mehr Heime, immer mehr Betten. Das lohnt sich nur, wenn diese Betten auch belegt sind – nicht anders als in einem Fünf-Sterne-Hotel. Ehlert muss die Leute von der Straße holen. So kühl und konsequent hat es noch kein Berliner Sozialarbeiter angepackt. Ehlert irritiert seine Kollegen mit Begriffen wie »Expansion«, »Wertschöpfung« und »Immobilienmanagement«. Er glaubt, dass Wohlfahrt und Wirtschaftlichkeit zusammenpassen.

Für das, was 1994 im Deutschen Bundestag geschieht, könnte er das Drehbuch geschrieben haben. Ein Gesetz wird geändert – nichts, was die breite Öffentlichkeit interessieren würde, dafür liest sich die Novelle des Paragrafen 93 im Bundessozialhilfegesetz zu kompliziert: Von nun an sollen die Ämter den sozialen Diensten nicht mehr all ihre Ausgaben einfach erstatten. Vereine wie die Treberhilfe werden jetzt mit Tagessätzen für jeden Obdachlosen bezahlt, den die Behörden an ihre Heime vermitteln. Nur wer weniger Geld ausgibt, als er vom Staat bekommt, wird überleben. Und wer nichts bekommt, weil die Ämter ihm keine Bedürftigen schicken, ist tot.

Mit diesem Gesetz hat der Staat die Verwaltung der Armut privaten Anbietern überlassen. Der Staat, sagt sich Ehlert, das bin jetzt ich. Wann immer die Zeitungen über ein neues soziales Problem berichten, erfindet Ehlert ein »Produkt«, mit dem man es lösen könnte: Als sich Meldungen über Kindstötungen häufen, gründet er das Projekt »Kinderperspektive« zur Betreuung von überforderten Müttern. Er eröffnet die »Villa Chance« für obdachlose Kinder. Er erfindet eine »Soziale Task Force«, eine Gruppe von Streetworkern, die Deutsch, Türkisch und Arabisch sprechen. Ehlert lässt Flyer drucken und treibt seine Leute zu Besuchen und Anrufen bei Ämtern. Sie reden dort über Notunterkünfte wie Handelsreisende über Staubsauger. Wenn Sozialarbeit ein Markt ist, soll sein Unternehmen eine Marke sein. Immer neue Projekte schiebt er an und gibt ihnen eingängige, ambitionierte Namen: »Helpline Team«, »Spektrum«, »Aktiv«, »Mobil«. So viel auf einmal hat sich wohl niemand in einer Sozialbehörde je einfallen lassen. Wahr ist aber auch: Ehlert sucht sich die lukrativsten Problemfelder. Die mit einem verlockenden Verhältnis von kleinem Aufwand und großem Gewinn. Er pickt sich die Rosinen heraus.

»Berlin ist der größte Markt zwischen Paris und Moskau!«, ruft Ehlert durch den Renault. Eine Stadt der Glücksritter und Pechvögel, letzte Zuflucht für die Gescheiterten aus der Provinz – das Silicon Valley der Fürsorgeindustrie. Ehlert sagt, er habe schon überlegt, ob sich einige Ideen nicht exportieren ließen, »da muss sich Deutschland nicht auf Ingenieurleistungen beschränken«. Ehlert muss nicht aussprechen, wofür er sich hält: In diesem Silicon Valley der Sozialprogramme ist er der Bill Gates.

Doch nun sitzt Ehlert in einer engen Familienkutsche, gießt sich Kaffee nach und hat Angst vor den eigenen Leuten. Kein Büro der Treberhilfe, an dem Meister vorüberfährt, will Ehlert betreten. Er telefoniert lieber, das ist ungefährlich. »Der Laden ist hochsensibilisiert«, raunt Ehlert. Seine Schande ist die Schande der ganzen Firma. Die Angestellten sind wütend auf ihn, seit er mit diesem Maserati ihre Arbeit in Verruf gebracht hat.

Dabei haben sich Leute, die das Sozialwesen gut kennen, nie über die Arbeit der Treberhilfe beklagt. Sie tun es bis heute nicht. »Die Treberhilfe an sich hat nicht umsonst einen guten Ruf«, sagt Thomas Dane, Vorstand des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg. »In all den Jahren ist nie einer gekommen und hat sich über Ehlert beschwert«, sagt Michael Müller, der SPD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus.

Vermutlich ist auch Mario Lanze, 48, kein schlechter Zeuge. Rauchend sitzt er im Bezirk Wedding auf einer Bank vor dem Panorama Nord, einem Heim der Treberhilfe. Sein Gesicht wirkt verquollen, das Gebiss nicht ganz komplett. Das Leben hat ihm übel mitgespielt, er dem Leben aber auch: 17 Jahre Möbelträger, Rücken kaputt, von sich aus gekündigt. Lanze hat dann noch auf einem Friedhof gearbeitet, für 1,50 Euro die Stunde, dann entglitt ihm der Alltag. Miete nicht bezahlt, wohnungslos. »Da war ich am Arsch«, sagt Lanze.

»Meinetwegen kann er vier Maseratis fahren. Mir hat es an nichts gefehlt«

Das Sozialamt vermittelte ihn in eine private Pension, in der sich zehn Männer eine Küche und ein Bad teilten. Lanze erinnert sich »an Warteschlangen wie aufm Amt, ob vorm Klo oder in der Küche. Und dauernd das Geschrei: Mach hinne!« Ging er auf die Toilette und vergaß, sein Zimmer abzuschließen, wurde er bestohlen. Mal waren seine Zigaretten weg, mal Duschgel, mal Milch, mal Eier. »Wenn du da keinen eisernen Willen hast, gehst du ein«, sagt Lanze. »Da verlernst du das Leben.«

Lanze war in einem der Heime gelandet, die Harald Ehlert »Läusepensionen« nennt – weil sich der Besitzer nicht kümmert, weil ihm egal ist, wenn es nur »Kornfrühstück« gibt. Für jeden Tag, den Lanze in dem heruntergekommenen Haus verbrachte, zahlte das Sozialamt dem Betreiber 14,78 Euro – und fragte nicht, was der damit machte.

Eines Morgens fehlte Lanzes Nachbar in der Warteschlange vor dem Bad. Er hatte sich auf seinem Zimmer totgesoffen, mit 38 Jahren.

Lanze floh. Er hatte von einem Haus der Treberhilfe gehört, »da haben alle gesagt: Das ist wie ein Hotel«. Für ein Hotel ist das Panorama Nord viel zu karg, aber es gibt hier Zwei-Personen-Appartements mit Küche und Bad, dazu einen Aufenthaltsraum, in dem die Kinder ihre Geburtstage feiern können. Es gibt zwei Computer mit Internetanschluss, Drucker und Fax. Und es gibt eine Pförtnerloge, die rund um die Uhr besetzt ist, zwölf Stunden davon mit einem Sozialarbeiter, der dauernd drängt, sich am Computer einen Job und eine Wohnung zu suchen. »Hab ich geschafft«, sagt Lanze, »bald zieh ich um.«

Lanze erzählt von seiner Zeit in diesem Haus wie aus einem Märchen. Allein die Weihnachtsfeier 2009: »Erbsensuppe mit ordentlich Würstchen, Kaffee, Kinderpunsch und für jeden einen Beutel mit Klappkalender und Kugelschreiber.« Das Wort Würde ist ihm nicht geläufig, aber es ist das, was er umschreibt.

Der Tagessatz im Panorama Nord liegt bei 14,50 Euro. Das Heim ist im Schnitt zu 95 Prozent belegt, von 85 Prozent an wird Gewinn gemacht.

Ehlert, den Boss, sah Lanze zum ersten Mal vor einem halben Jahr, auf der Weihnachtsfeier. Der Maserati fuhr vor, aus der Rückbank wuchtete sich ein schwarzer Mann mit Stetson-Hut, und Lanze dachte: »Na, da hat wohl einer im Lotto gewonnen.« Als wenige Monate später Fernsehteams vor dem Heim standen und die frisch gestrichene Fassade filmten, als sei damit irgendetwas zu belegen, hätte Lanze ihnen gern in die Mikrofone gesprochen: »Meinetwegen kann der Ehlert vier Maseratis fahren – mir hat es hier an nichts gefehlt.« Allerdings, sagt Lanze, habe von ihm niemand etwas wissen wollen. »Die hatten überhaupt keine Fragen.«

So ging das tagelang. Reporter kamen und gingen, filmten und schwiegen. Irgendwann hat dann einer der Heimbewohner ein Fernsehteam des rbb mit einem Besenstiel vom Hof gejagt.

Wen der Maserati anekelt, der mag Leuten wie Lanze ungern zuhören. Aber interessant ist, dass dieser einfache Mann, der Ehlerts Arbeit allein an sauberen Betten und abschließbaren Zimmern bemisst, ihn freispricht. Man kann auch Rolf fragen oder Petra, man kann sich mit Manfred unterhalten oder mit Nadine, man kann durch Ehlerts Obdachlosenheime reisen, die Zahnlosen, Zerfurchten und Gebrochenen um ihre Meinung bitten – immer wieder hört man einen Satz: Der Mann im Maserati hat uns gutgetan. Er ist besser zu uns gewesen als die freudlosen Sachbearbeiter in den Ämtern. Ehlert hat uns eine Idee vom kleinen Aufstieg gegeben. Mit einem sauberen Zimmer fängt das Leben an.

Jene, die so über ihn sprechen, erinnern sich daran, wie das Panorama Nord ausgesehen hatte, bevor Ehlert es vom Bezirksamt übernahm: Kabelbrände hatten die Decken geschwärzt, der zweite Fluchtweg war mit Birken zugewuchert.

Der Architekt Siegfried Hertfelder hat mehrere Häuser für Ehlert umgebaut, er sagt, er sei erstaunt gewesen über die Besessenheit dieses Bauherrn. Ehlert liebte zentrale Lagen für seine Heime, »nicht verschämt am Feldrand« – stattdessen mit einer riesigen Treberhilfe-Leuchtreklame an der Fassade, wie bei einem Flughafenhotel.

»Mit dem saß man bis tief in die Nacht und hat diskutiert, wie gute Architektur für Obdachlose aussieht: eine, die sie willkommen heißt, aber nicht zu lange hält.« Stundenlang referierte Ehlert über die Wirkung warmer Wandfarben, Hertfelder versuchte dann, ihn von seinem »Hang zum Toskanischen« abzuhalten. Gern erzählt der Architekt von Ehlerts Toilettentheorie: »Mehr als zwei Menschen sollen sich ein Bad nicht teilen dürfen – wenn der eine da nicht die Klobürste benutzt, kann der andere immer sagen: Jetzt mach aber mal!« Jeden Fassadenentwurf habe Ehlert sich zeigen lassen, jede Fliese ließ er sich vorlegen.

Jahr für Jahr kauft Ehlert Häuser, nimmt Kredite auf, seine Treberhilfe wächst. Je größer das Unternehmen, desto härter wird sein Zugriff. In einer Welt der weichen Worte will er harte Fakten. Sechs Jahre lang tüftelt er an einem Computerprogramm, in das seine Sozialarbeiter Informationen eingeben müssen: Wie schätzen Sie das Konfliktverhalten des Klienten ein? Wie hoch ist seine Motivation? In Ehlerts Programm wird jeder Klient zur Verlaufskurve, alle Arbeit nachprüfbar. Das ist die eine Hälfte des Programms. Die andere versteckt sich hinter dem Button »Umsatz-Kontrolle«: Dort ist jederzeit ablesbar, ob eine Einrichtung der Treberhilfe gerade Gewinn macht oder Verlust. Ob sie gut belegt ist oder schlecht. Irgendwann haben die Computer in den Treberhilfe-Außenstellen keine Festplatten mehr, alle Daten laufen in 14 Großrechnern in der Zentrale zusammen. Dort klickt sich Ehlert durch die Live-Bilanzen seiner Filialen. Heimleiter, die ihre Häuser nicht über dem roten Strich halten, haben plötzlich ein Problem.

1999 drängt Ehlert in die Politik. Er hat die Treberhilfe nach seinen Vorstellungen geformt, jetzt kandidiert er für die Berliner SPD bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Er lässt Plakate drucken, die einen siegessicheren Mann im weißen Anzug zeigen. Er tritt noch sozialdemokratisch stilecht in Genossenschaftssiedlungen auf, aber auch schon im Internet. Im Abgeordnetenhaus zieht Ehlert in den Hauptausschuss ein, das entscheidende Gremium für Finanzen. Es gibt nicht viele Leute in der Berliner SPD, die eine Bilanz lesen können, schon deshalb wird Ehlert geschätzt. Und er neigt dazu, sich selbst zu überschätzen. Nach einer Fraktionssitzung sagt er über den späteren Bürgermeister Klaus Wowereit: »Jetzt habe ich es dem Klaus aber mal richtig gezeigt.«

Es scheint, als wolle er ausprobieren, ob er ein noch größeres System nach seinen Vorstellungen formen kann.

Dann aber, Ende des Jahres 2000, ist er plötzlich verschwunden. Niemand in der Partei weiß, wo Ehlert steckt. Der Abgeordnete ist abgetaucht, über Monate. Nur einer Genossin in seinem Heimatbezirk Schöneberg vertraut er sich an: Angelika Schöttler, Tochter eines früheren Bürgermeisters von Berlin-Schöneberg. Sie weiß, dass Ehlert schwere Herz-Kreislauf-Probleme hat. An der Nordsee erholt er sich. Als er nach Berlin zurückkehrt, sagt er den Genossen bloß: »Ich hatte eine Krise.«

Schon zuvor hatte Ehlert auf einige seiner Genossen seltsam verloren gewirkt. Ein einsamer Mann, der manchmal eine Freundin zu Parteifesten mitbrachte, ganz selten über die beiden Töchter aus seiner zerbrochenen Ehe sprach – und über seine frühere Frau nie. Wie er wirklich denkt, wie er wirklich ist, bleibt selbst den wenigen Freunden verborgen, die sich abends mit ihm auf ein Bier treffen.

Wie sieht er sich selbst? »Ich bin mobil zwischen verschiedenen Welten«, sagt Ehlert, jeder sehe in ihm einen anderen: die Betriebswirte den Sozialarbeiter, die Sozialarbeiter den Betriebswirt. Man kann Ehlert fragen, wie seine Töchter über ihren Vater denken, und er antwortet, er wisse es nicht genau. Jeder Frage, die tiefer in ihn eindringen könnte, entzieht er sich durch Flucht ins Ungefähre.

Auf seine Genossen wirkt Ehlert ruhelos, gehetzt, ein Mann ohne Mitte. Ihm fehlt die Geduld für endlose Sitzungen, mit der Geselligkeit in piefigen Vereinsheimen kann er wenig anfangen. Er benötigt die Politik aus geschäftlichen Gründen, aber er ist zu sehr verliebt in messbare Erfolge, als dass er bereit wäre, sich für die Politik krummzulegen. Die Partei verliert das Vertrauen in ihn und stellt ihn 2001, bei den nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus, nicht mehr auf.

Ehlert versucht es nun auf der untersten politischen Ebene, wird ins Bezirksparlament von Schöneberg gewählt, wo seine Vertraute Schöttler zur Jugendstadträtin aufsteigt. Sie ist noch unsicher in diesem Amt. Eine Angestellte im Chemiekonzern Schering war sie, zuständig für Datenverarbeitung, und Ehlert sagt ihr, was wichtig ist. Er braucht Aufträge. Als die Treberhilfe weiter wächst, geht er kaum noch zu Parteiversammlungen, scheidet 2005 aus dem Bezirksparlament aus, kümmert sich ganz ums Geschäft. Einige seiner Heime sind bis zu 98 Prozent belegt, im Schnitt.

Ehlert besucht die wichtigen Leute in den Bezirksrathäusern persönlich, geht dorthin, wo Monat für Monat Millionensummen vergeben werden. Ihm fällt es leicht, das Vertrauen fremder Menschen zu gewinnen. Er betritt ein trauriges Amtszimmer, und plötzlich hat dieses Zimmer eine Farbe und einen Klang. Er wirkt ganz anders als diese Sorgenonkel von der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt, die immer so aussehen, als müssten sie das Leid der Welt allein schultern.

Der Staat will sich jetzt wandeln. Er will nicht länger die Bedürftigen durchfüttern. Der Staat will die Rückkehr ins Leben fördern. Aus unterschiedlichsten Quellen fließt Geld, aus dem Berliner Senat, den Bezirksämtern der Stadt, aber niemand kann sagen, ob es sinnvoll verteilt wird. Es sind schon Kommissionen an der Frage gescheitert, wie viele Milliarden der Staat für soziale Dienste ausgibt. Ein undurchschaubarer, wachsender Markt. Und Ehlert wächst mit.

Man kann die Ausmaße sehen, wenn man den schnaufenden Harald Ehlert im Renault neben sich sitzen hat. Das Plastiktischchen, das er ausgeklappt hat, damit er seinen Kaffeebecher abstellen kann, schneidet ihm in den runden Bauch. So sehr ist er aus der Form geraten, dass ihn einige seiner Mitschüler zuerst gar nicht erkannten, als in diesem Frühjahr die Maserati-Fotos in den Zeitungen auftauchten. Was war er für ein schlanker Bursche, als er vor 20 Jahren die Treberhilfe übernahm. Mit dem Erfolg kamen die Zigaretten, erst wahllos irgendwelche Marken, dann als SPD-Kandidat im Wahlkampf das milde, modische Bekenntnis: täglich zwei Schachteln Gitanes, die weißen, passend zum Anzug. Danach die Herzprobleme, die Abkehr vom Nikotin, der Vorsatz, gesünder zu leben. Das Geschäft mit der Armut lief prächtig, der Hunger nach Geltung nahm zu, aus dem Hunger wuchs Gier, aber die Gier machte ihn nicht mehr satt. Er stellte eine Sekretärin ein, die ihm Schnittchen schmiert.

»Meister«, ruft Ehlert nach vorn, »sehen Sie mal zu, dass Sie rechts rauskommen, sonst machen wir hier gleich ein Staupicknick. Ich will aber in die Monumenten!«

Die Monumentenstraße. Dort kauft Ehlert 2009 ein heruntergekommenes Haus – die frühere Grundschule seiner ältesten Tochter. Er ruft sie an und sagt, dass er etwas Schönes daraus machen wird. Ehlert denkt jetzt in noch größeren Dimensionen. Als Barack Obama 2008 zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde, gratulierte Ehlert in Lokalzeitungen mit halbseitigen Anzeigen: ein Sozialarbeiter im Weißen Haus! Nun liegen da diese 17.000 Quadratmeter Grundstück inmitten Berlins. Ehlert will die Schule abreißen und fünf neue Häuser bauen – er nennt sie »Maisons de Socialité«: ein Familienzentrum, ein Jugendhilfezentrum, ein Obdachlosenheim, eine Schule, in der seine Klienten gemeinsam mit den Kindern des Viertels lernen sollen. Und eine neue Zentrale für die Treberhilfe, im Obergeschoss ein riesiges Büro für ihn. Alles durchzogen von Kiesgärten, aufgeheitert mit Springbrunnen. Seine Vertraute, die Jugendstadträtin Schöttler, ist begeistert.

Als Meister in der »Monumenten« angekommen ist, steht da nur ein Bauzaun, dahinter die Asbest-Ruine der Schule. Ehlert schreitet das Grundstück ab wie ein Farmer seinen Claim. Er nennt das hier »die Unvollendete«. Selbst im Scheitern will er groß klingen.

Was wäre hier entstanden, wenn der Maserati nicht dazwischengekommen wäre? Eine soziale Stadt in der Stadt? Ein Denkmal für einen Sozialunternehmer?

Ehlert hat aus der Treberhilfe einen Immobilienkonzern gemacht, ein verschachteltes Gebilde, das nur noch er selbst durchdringt, das im vergangenen Jahr rund 15 Millionen Euro umsetzte – und davon eine Million als Überschuss auswies. Da hat Ehlert, der Autoliebhaber, seinen drei Prokuristen längst schon BMW-Z4-Cabrios als Dienstwagen gegönnt. Heimleitern, die mehr als 70.000 Euro im Monat umsetzen, stellt er BMW-Geländewagen zur Verfügung. Sein eigenes Gehalt erhöht er sich in manchen Jahren um bis zu 50 Prozent. Ehlert will seinen Erfolg sichtbar machen und eine Debatte lostreten: »Muss sich Moral mit Hässlichkeit umgeben?« In Interviews bezeichnet er sich voller Wonne als »Mischung aus Dagobert Duck, Mutter Teresa und Horst Schimanski«.

Und er kauft die Villa am See.

Es ist vor fünf Jahren, nach einer seiner Krankheiten. Ehlert macht eine Spritztour durch Brandenburg und kommt zum Schwielowsee bei Potsdam. Im weltvergessenen Caputh findet er eine spitzgiebelige kleine Villa, steingewordene Beschaulichkeit, gut fürs Herz. An diesem See hat einst Albert Einstein gewohnt und gesagt: »Komm nach Caputh, und vergiss die Welt.« Einsteins Satz wird Ehlerts Satz. Die Villa liegt 40 Kilometer von der Zentrale seiner Treberhilfe entfernt. Die Mitarbeiter könnten pendeln, denkt Ehlert, »sonst hätten wir noch die ganze Beherbergung dabei«. Abends am Wasser will er seine Ruhe.

Die Treberhilfe kauft das Haus. Ehlert lässt zwei Pavillons am See errichten, für Schulungen seiner Sozialarbeiter. Im Dachgeschoss der Villa lässt er sich eine Wohnung ausbauen, für die er Miete an die eigene Firma zahlt. Für die stillen Stunden kauft er sich ein Paddelboot.

Will man den Staatsanwalt sprechen, der die Ermittlungen gegen Ehlert leitet, muss man ein schäbiges Haus betreten. In einem ausrangierten Gesundheitszentrum läuft man an einer Gedenktafel vorbei, die an den Erfinder des Penicillins erinnert, ein paar Treppen hoch, einen trostlosen Korridor entlang. Wenn hier die Staatsmacht wohnt, die gegen einen Wohltäter mit Dienstvilla am See ermittelt, dann kann man sich gut vorstellen, dass diese Macht große Freude daran hätte, den Verdächtigen zu überführen.

Aber da sitzt Ulf-Hartwig Hagemann an seinem Schreibtisch, Oberstaatsanwalt, Hauptabteilungsleiter C, und reibt sich ratlos die Hände. Bis zu fünf seiner Kollegen arbeiten sich gerade am Fall Ehlert ab. »Wir behandeln das Verfahren vorsichtig«, sagt Hagemann, das Finanzamt prüft auch. »So etwas haben wir noch nie gehabt.«

Untreue? Hm, sagt Hagemann, falls Ehlert für seine Wohnung in der Villa nur eine kleine Miete gezahlt hat, dann war das wohl keine Untreue, eher ein Steuerdelikt.

Über den Verein Treberhilfe sind das Seegrundstück und die Villa als Vermögenswerte in die GmbH eingebracht worden. »Aber was ist das rechtlich? Eine Schenkung? Eine Schenkung an eine gemeinnützige GmbH ist steuerfrei. So sieht es jetzt aus.« Der Maserati, Listenpreis 114.000 Euro? Ein vom Finanzamt anerkannter Firmenwagen. Viele andere Geschäftsführer sozialer Dienste fahren schwere BMW- und Mercedes-Limousinen, auch nicht viel preiswerter.

422.000 Euro im Jahr, 35.000 pro Monat – Untreue? Wohl nicht, sagt der Ermittler, ein unabhängiger Wirtschaftsprüfer hat ein Gutachten erstellt. Ehlerts Gehalt liegt demnach an der obersten Grenze, sei aber so eben noch angemessen. Andere Geschäftsführer sozialer Dienste in Berlin verdienten im Monat 10.000 bis 15.000 Euro, aber sie erledigten diesen Job oft zu zweit, das sei zusammengenommen auch nicht viel billiger.

Was zum Teufel hat Ehlert anders gemacht als die anderen? Das fragt sich Hagemann die ganze Zeit. Wie ist es ihm gelungen, mit so wenigen Mitarbeitern so viel Profit zu machen? Wo andere sich die Arbeit teilen, Kleinkram delegieren, hat Ehlert alles an sich gerissen – und seine Sozialarbeiter zum unbedingten Gewinndenken gezwungen. Aber ist das strafbar? Hat es etwas zu bedeuten, fragt sich der Ermittler, dass Ehlert seinen Angestellten 100 bis 200 Euro im Monat weniger zahlte als im Branchenschnitt? »Machen das viele andere nicht auch?« Seinen Prokuristen hat Ehlert über die Jahre sogar kräftig die Gehälter erhöht. Es gebe, sagt der Staatsanwalt, keinen Angestellten der Treberhilfe, der Ehlert wegen schlechter Bezahlung angezeigt habe.

Untreue? Wurde überhaupt ein Schaden verursacht? »Da sind wir im philosophischen Bereich«, sagt der Staatsanwalt, »Untreue ohne Schaden ist nicht denkbar. Und versuchte Untreue gibt es nicht, fahrlässige Untreue auch nicht. Irgendwo müsste der Schaden doch sein.«

Hat Ehlert seinen Laden bloß besser geführt, zum Nutzen der Obdachlosen, zu seinem privaten Vergnügen obendrein? Ehlert hat sich hoch verschuldet, er hat für seine Firma etwas riskiert. Ist es illegal, wenn sich ein raffinierter Unternehmer aus den Gewinnen bedient, nachdem er Tausende Obdachlose bedient hat?

Der Staatsanwalt fragt: »Und wenn Ehlert einfach nur cleverer war?«

Harald Ehlert hat das Gute in obszöner Offenheit mit dem Schönen vermengt, sich an der Symbolik einer Wirtschaftsbranche vergangen, die ihr Bild der selbstlosen Helfer pflegt. Für die Männer mit den traurigen Augen, die an der Spitze von Wohlfahrtsverbänden stehen, ist ein Mann mit dem Lachen eines Zirkusdirektors nichts als eine Provokation. Harald Ehlert hat Gutes getan, aber seinen Lustgewinn nicht gut genug versteckt. Zu diesem Schluss kann man kommen, wenn man die Fragen, die sich der Chef der Ermittler stellt, zu einer Antwort verdichtet. Der Staatsanwalt sagt: »Und wenn Ehlert einfach nur cleverer war? Vielleicht muss er am Ende noch das Bundesverdienstkreuz kriegen. Ich weiß es nicht.«

Der Mann ist ein Rätsel. Auch für seine Mitarbeiter wird er immer undurchschaubarer. Nachdem Ehlert in die Villa am See gezogen ist, verändert er sich, und mit ihm die Treberhilfe. Jede Woche pendeln Angestellte zwischen Berlin und Caputh, um von Ehlert geplante Fortbildungen zu absolvieren. Zum Abschluss der Kurse verteilt er selbst entworfene Zertifikate – im Briefkopf ein Bild der Villa. Einmal in der Woche treffen sich die Führungskräfte zur Tagung am See, um 9.30 Uhr geht es los. Doch manchmal hat Ehlert sein Frühstück erst um 11 Uhr beendet, kommt um 12 Uhr und verabschiedet sich zehn Minuten später »zu einem Anschlusstermin«.

»Führerhauptquartier« nennen seine Leute die entlegene Villa, »Wolfsschanze«. Ehlert, sagen sie, habe sich nur noch für Zahlen interessiert. Die Bilanzen bestimmen von nun an sein Seelenleben, lösen Verzückung aus – und Jähzorn. Wer nicht liefert, was der Chef will, wird rausgeschmissen. In manchen Monaten gibt Ehlert mehr für Abfindungen aus als für sein eigenes Gehalt. Von 2007 bis heute war Ehlerts Treberhilfe an 43 Prozessen vor dem Berliner Arbeitsgericht beteiligt.

Da ist Manfred B., der Betriebsrat, den Ehlert nicht akzeptieren will und deshalb zur Gartenarbeit abkommandiert, zum Unkrautzupfen und Fegen.

Da ist Benjamin K., ein junger Sozialarbeiter, der nach sieben Monaten kündigt – und von dem Ehlert 4157,73 Euro Ausbildungskosten für seine Fortbildungen am See zurückfordert.

Da ist Georg K., der Mann für die EDV, dem Ehlert in diesem Frühjahr aufträgt, die Ergebnisse einer Google-Suche zu seinem Namen so zu steuern, dass der Maserati nicht mehr sofort auftaucht. Dem EDV-Mann gelingt das nicht – Rausschmiss.

Und da ist Tobias Vogel, ein Sozialpädagoge, den Ehlert anfangs liebte wie einen Ziehsohn. Vogel hatte lange eine Kneipe geführt, er dachte wie ein Selbstständiger. Er sagt von sich, dass er »eher für Handkante als Helfersyndrom« stehe und dass er gut »mit den 40- bis 50-jährigen Damen auf den Ämtern« gekonnt habe. Hier ein paar Komplimente, da »Aldi-Champagner für 13,99, zu Karneval ein paar Pfannkuchen« – und die Betten im Heim waren wieder voll. Als er Ehlert um eine Gehaltserhöhung bat, habe der geantwortet: »Der Fisch bestimmt nicht über den See, in dem er schwimmt.«

So umgeben Ehlert bald nur noch Höflinge, die ihm sein Reich schöner schildern, als es ist. Die ihm draußen in Caputh verschweigen, dass sie kaum noch investieren, um ihn mit glänzenden Bilanzen zu erfreuen. Die nicht zu sagen wagen, dass sie, um ihre Häuser auszulasten, auch Obdachlose aufnehmen, die in einer Psychiatrie oder in einer Entziehungsklinik besser aufgehoben wären.

Dass zu viel des Guten manchmal schlecht ist.

Der 12. Februar dieses Jahres ist der Tag, an dem sich Harald Ehlert sein Grab schaufelt, und er ahnt nicht einmal etwas davon. Er tut das, was er immer tut: Aufgeregt läuft er durch das Rathaus von Berlin-Schöneberg, hat sich mit zehn Leuten gleichzeitig zum Gespräch verabredet. 200 Gäste sind auf seine Einladung hin zu einer Konferenz gekommen. Einige von ihnen waren auch schon auf der letzten Sommerparty der Treberhilfe, als Feuerwerksraketen zu den Klängen von Frank Sinatras My Way den Nachthimmel bemalten.

SPD-Funktionäre sind erschienen, CDU-Leute, auch ihr Berliner Generalsekretär, ein Mann vom Bund der Steuerzahler, der Chef der Diakonie, der Arbeiterwohlfahrt, eine Dame von der HypoVereinsbank. Ehlert hat einem Wirtschaftsprofessor der Universität Mannheim und der Unternehmensberatung Kienbaum Datenreihen der Treberhilfe überlassen, damit sie den »Social Profit« ausrechnen, den gesellschaftlichen Effekt seiner Sozialarbeit: Was nützt es dem Staat, wenn er Geld für die Betreuung von Obdachlosen gibt? Es nützt dem Staat dann etwas, wenn die Obdachlosen dauerhaft in ein normales Leben zurückfinden, keine Kosten mehr verursachen. Das ist Ehlerts neueste Idee: Er sucht nach einer Maßeinheit für den Erfolg und den Misserfolg von Sozialarbeit.

Für jeden Euro, den die Treberhilfe vom Staat bekommt, kriegt der Staat 1,15 Euro zurück. Das sind die Ergebnisse, die sich Ehlert von Wissenschaftlern ausrechnen ließ. 15 Prozent Nutzen, die Zahl dieses Tages, eine glänzende Zahl für Ehlert, für andere eine furchterregende. Was würde passieren, wenn die Sozialbehörden nur Anbieter mit einem »Social Profit« auswählten? Dem Berliner SPD-Chef Michael Müller ist nicht wohl bei dem Gedanken. Er sitzt in der Konferenz und sagt: »Wenn sich diese Haltung durchsetzt, wird es dramatische Veränderungen geben.« Wie soll der »Social Profit« in einem Altenheim ausfallen? Ein 90-Jähriger wird nie wieder 20 sein. Wie soll der »Social Profit« eines Sterbebegleiters steigen?

Einerseits will Ehlert möglichst viele Menschen aus der staatlichen Hilfe befreien, andererseits möglichst viele Plätze in seinen Unterkünften belegen. Das ließe sich nur miteinander verknüpfen, wenn immer mehr Obdachlose in Heime kämen und zugleich immer mehr von ihnen gerettet würden, aber nur, damit am nächsten Tag noch mehr Obdachlose die Unterkünfte füllen. Eine Kaskade des Elends, verbunden mit einer Kaskade der Elendsbekämpfung. Ein Perpetuum Mobile aus lohnenden Problemfällen, ein System, wie es auch die Finanzmärkte verrückt macht. Was Ehlert sich da ausgedacht hat, ist die Utopie eines kapitalistischen Streetworkers: ein Megalopolis der Penner.

Als die Konferenz zu Ende geht, hat er viele neue Gegner. Dieser Mann ist einfallsreich, gerissen und vielleicht gefährlich. Das wissen jetzt alle, die in Berlin den sozialen Markt beherrschen. Als die frühere Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing das Rathaus verlässt, sagt sie sich: »Jetzt hat er die anderen sozialen Dienste richtig unter Druck gesetzt.« Ehlert habe sich »unsere Sozialmafia zum Feind gemacht«, sagt ein Berliner Sozialdemokrat, »er hat dem Kartell der Verschwender gezeigt, dass man Rendite erwirtschaften kann«.

Es mag Zufall sein, dass wenige Tage später die Affäre Ehlert losbricht. Der Maserati wird zum Titelthema in Boulevardblättern, Ehlert zum bundesweit bekannten Widerling. Daran wäre nichts Erstaunliches, wenn die Neuigkeit vom Maserati wirklich eine Neuigkeit wäre. Aber der Tagesspiegel hatte schon im Dezember 2008 auf einer ganzen Zeitungsseite über Ehlert und den Sportwagen berichtet, doch niemand regte sich auf. Was ist jetzt anders?

»Anscheinend fühlen sich Leute von Ehlert bedroht«, sagt die Jugendstadträtin Schöttler. Eine Nachricht, die auf fruchtbaren Boden fällt, entfaltet ihre Wirkung. Und Ehlert verliert die Kontrolle, über sich, über sein Unternehmen. Am Anfang entdeckt bloß der Gerichtsreporter des Berliner Kuriers eine kleine Ankündigung einer Verhandlung. Der Maserati ist von der Polizei geblitzt worden, der Halter soll ein Fahrtenbuch führen. Da geht die Affäre los. Ehlert veranstaltet abenteuerliche Pressekonferenzen, in denen er den Maserati als Auto für »soziale Stadtrundfahrten« in Hartz-IV-Gebieten präsentiert. Der Maserati muss ihn um den Verstand gebracht haben. Er macht sich lächerlich, hält an dem Auto fest, bemerkt seine Blamage nicht einmal.

Die Geschichte könnte an dieser Stelle zu Ende sein, aber sie geht weiter, weil mit einem Mal Ehlerts Lebenswerk zu zerfallen droht, und ob die Retter, die sich als solche ausgeben, wirklich die Retter sind, kann niemand eindeutig sagen. Der Chef im Aufsichtsrat der Treberhilfe, der Vorstand der Diakonie, redet plötzlich schlecht über die Treberhilfe. Die Diakonie, das große evangelische Sozialwerk, ist ein Konkurrent der Treberhilfe, einerseits. Andererseits ist die Berliner Diakonie auch ein Dachverband für 440 Sozialbetriebe, auch für Ehlerts Firma. Noch ist das so – bis die Diakonie im Juni beschließt, die Treberhilfe aus dem Verband zu werfen.

Da gibt es ihn schon, einen Mann von der Diakonie, der zum Geschäftsführer des eilig gegründeten Vereins Neue Chance berufen wird, der plötzlich gebraucht wird, weil Sozialarbeiter der Treberhilfe aussteigen und bei ihm anheuern wollen, im Haus der Diakonie. Man kann darin eine freundliche Geste der Solidarität sehen – oder den Versuch einer feindlichen Übernahme. Rainer Krebs heißt der Geschäftsführer für die Wechselwilligen, Ehlerts Laden wäre eine leichte Beute.

Einen »Umsatzeinbruch« der Treberhilfe, ja, so etwas könne er sich jetzt vorstellen, sagt Krebs. Das Vertrauen der Ämter in Ehlerts Firma habe extrem gelitten. Krebs sagt das sehr bedächtig, stockend, fast so, als müsse er sich gegen eine Müdigkeit wehren, die auf seine Augenlider drückt. Sein ausgestreckter Arm liegt wie tot auf einer Stuhllehne. Er kennt viele Paragrafen des Sozialgesetzbuches, er ist seit 30 Jahren dabei, und wenn man ihn nach seinem Auto fragt, antwortet er lächelnd: »Ein Golf-Kombi. Ich nenne ihn Rolf. Rolf, den Golf.«

Harald Ehlert hat seine Autos nie getauft. Er hat sie gemustert wie ein Juwelier seine Diamanten.

»Ich find’s nicht dekadent überprotzt«, sagt Ehlert über die Villa am See

»Meister, nehmen Sie die Autobahn!«, ruft Ehlert, und Meister weiß schon, wohin der Chef jetzt will. Gleich sind sie am Ziel. Caputh, Schwielowsee, ein lauer Wind in den Weiden, zwitschernde Vögel. Eine Hausangestellte versucht, das große Tor zu öffnen, als der Wagen des Chefs vorfährt, aber das Schloss klemmt. Das ist sie also, die Villa, Ehlerts Zuhause. »Eine Premiere«, sagt er, »hier war noch nie ein Journalist.« Die Kamerateams, die ihm auflauerten, habe er nicht hereingelassen. Die Leute von Spiegel TV seien so aufdringlich gewesen, dass er sie fast überfahren hätte. Fast überfahren, mit einem Zwölf-Zylinder-Jaguar. Mit seinem privaten Cabrio.

Ehlert führt in die Pavillons, in denen seine Fortbildungen stattfinden, kleine Schmuckstücke, Massivholz, Marmor, ungleich wuchtiger als die Räume des Diakonischen Werks. »Ich war nicht ganz unbeteiligt an dem Entwurf«, sagt Ehlert. »Ich find’s nicht dekadent überprotzt.« Für die Berliner Staatsanwälte wäre dies das Paradies. Die Villa des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Starnberger See ist allerdings bedeutend prächtiger.

In den beiden oberen Etagen der Villa liegt Ehlerts Wohnung, 89 Quadratmeter – 89,5, von einem Gutachter bestätigt, Material für die Ermittler. In diesem Dachgeschoss hält Ehlert sich auf, wenn er nachts um zwei am Telefon sitzt und Geschäftspartnern Rückrufbitten auf die Anrufbeantworter spricht.

Die Sonne ertrinkt blutrot im See, es ist schon Abend. Noch eine Frage, Herr Ehlert: Was haben Sie falsch gemacht in Ihrem Leben?

Ehlert lehnt sich in seinem Korbsessel zurück, sein Anwalt schaut ihn prüfend an. Ehlert zögert, ungewöhnlich lange. »Nichts. Nichts habe ich falsch gemacht.« Vom Maserati hätte er sich vielleicht früher trennen sollen, sagt er, lobt dann aber wieder dessen »Arbeitsplatzfähigkeit«. Der Wagen habe ja zwei Arbeitsplätze in sich geborgen, »vorne der Fahrer, hinten ich«.

Für ein paar Tausend Obdachlose hat Ehlert Heime gebaut, sich aber mit einem Maserati von ihnen abgesetzt. Er hat die Funktionäre der Sozialverbände mit diesem Auto erzürnt. Obwohl er die Gesetze der Branche kennt, hat er mit einem falschen Fahrzeug die Zukunft seiner 260 Angestellten aufs Spiel gesetzt. Nichts falsch gemacht?

Harald Ehlert sinkt noch tiefer in den Sessel, so als müsse er noch eine Weile über die rätselhafte Frage nachdenken. Dann sagt er: »Non, je ne regrette rien.« Nein, ich bereue nichts.

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Henning Sußebach


Henning Sußebach wurde geboren 1972 in Bochum. Studium der Journalistik an der Universität Dortmund, von 1995 bis 1997 Volontär bei der Berliner Zeitung, von 1998 bis 2001 Redakteur bei derselben. Seit 2001 Redakteur der ZEIT. 2006 und 2007 ausgezeichnet mit dem Henri Nannen Preis.

Stefan Willeke


Stefan Willeke hat Geschichte und Politik studiert. Seit 1996 arbeitet er bei der Wochenzeitung Die Zeit in Hamburg. Er hat zwei Mal den Kisch-Preis und einmal den Nannen-Preis gewonnen.
Dokumente
Der König der unteren Zehntausend

erschienen in:
Die ZEIT,
am 01.07.2010

 

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